30 April 2015
„IM UTERUS DES SCHÄDELS“
Mircea Cărtărescus Orbitor-Trilogie
Mircea Cărtărescu ist einer der bedeutendsten rumänischen Gegenwartsautoren, auch aufgrund seiner Orbitor-Trilogie, die inzwischen vollständig ins Deutsche übersetzt vorliegt. Allein hierzulande bekommt er nach dem Internationalen Literaturpreis im Jahr 2012 nun auch den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung. In der Begründung der Jury dazu heißt es: „Dieses monumentale, exzessive und alle Grenzen sprengende Prosa-Werk ist zugleich Künstler-, Großstadt- und Weltroman, übersteigt aber die Realität auf surreale, halluzinatorische und visionäre Weise.“
Der Titel
Im Original heißen die drei Bände Orbitor. Aripa stângă (Blendend. Der linke Flügel), Orbitor. Corpul (Blendend. Der Körper) und Orbitor. Aripa dreaptă (Blendend. Der rechte Flügel). Dass die Titel keine formal korrekte Übersetzung erfahren haben und im Deutschen Die Wissenden, Der Körper und Die Flügel heißen und dabei nur sporadisch auf die Zusammengehörigkeit der Trilogie hingewiesen wird, ist ausgesprochen bedauerlich. Möglicherweise wurde der Titel als sperrig empfunden, außerdem hat Elias Canetti lange vor Mircea Cărtărescu einen Roman Die Blendung genannt. Allerdings gehen mit dem ursprünglichen Titel wesentliche, für das Verständnis des Romans unerlässliche Informationen verloren.
Dieser Titel eröffnet assoziativ bereits den Raum der Interpretation, auf zwei grundverschiedenen Bedeutungsebenen, diesseits und jenseits des Satzzeichens. Durch die Flügel und den Körper wird auf den Schmetterling hingewiesen, der auf beinahe jeder Seite des Romans erscheint. Dabei klingt die Verwandlung der Raupe an, die Metamorphose des Körpers, die Erlösung aus einem niederen und die Wiedergeburt auf einem höheren Stadium, die Schönheit des Tieres, die Leichtigkeit des Flugs, die Unschuld eines nicht zielgerichteten Verhaltens und die geometrische Zeichnung der Flügel. Und damit auch das Assoziationsvermögen des Betrachters, der im Rorschach-Test – bei dem Farbkleckse auf Papier durch Falten eine symmetrische Form erhalten – indem er formuliert was er sieht sinnlose Kleckse in sinnvolle Worte verwandelt. Und schließlich wird auf die Chaostheorie verwiesen, die sich ausgerechnet der Lepidoptera bedient, mit der pittoresken, aber schwer zu überprüfenden oder zu widerlegenden These, der Flügelschlag eines Schmetterlings in einem Teil der Welt könne einen Wirbelsturm in einem anderen Teil verursachen.
Die zweite Bedeutungsebene ist das in jedem der drei Teile wiederkehrende Wort Orbitor – Blendend. Damit wird ein Sehen beschrieben, das mehr als Sehen ist: ein Hellsehen. Ein strahlendes Sehen, das im Übersehen in sein Gegenteil umschlägt, so dass der Geblendete nichts mehr sieht. Aus der Blendung wird mitunter auch die Verblendung, da einer alles andere sieht, nur das eine nicht. Im Blendwerk klingen die Illusion und die Täuschung mit. Die orbita bezeichnet die Augenhöhle im menschlichen Schädel, in die der kugelförmige Körper des Augapfels eingebettet ist. Sehen ist ein neurologischer Vorgang, bei dem ein kleiner Ausschnitt aus dem Spektrum elektromagnetischer Wellen, Licht genannt, in Nervenimpulse verwandelt wird. Licht ist seit jeher eine Metapher für die Wahrheit, Sehen eine für die Erkenntnis. Was wir sehen und als Wirklichkeit bezeichnen, so das Höhlengleichnis Platons, sind nur die Schatten der wahren Dinge. Dieses Gleichnis, geradezu die Gründungsurkunde abendländischen Denkens, beschreibt ein Erkennen, das nicht etwas, sondern sich selbst erkennt. Das lateinische orbis bezeichnet den Kreis, der Orbit die kreisförmige Umlaufbahn eines Planeten, dessen Rundung beim Sprechen von Orbitor sowohl im Eröffnungslaut als auch im identischen Verschlusslaut mit den Lippen nachgezeichnet wird. Um diese zweite Bedeutungsebene geht es im Folgenden.
Anders als in unserem Sonnensystem befindet sich im Zentrum der Umlaufbahnen von Orbitor kein zentraler Körper. Der dort dargestellte Charakter dreht sich um einen imaginären Punkt, der im Zentrum aller Selbsterkenntnis steht und dennoch nicht greifbar ist, sich jedem Nachweis entzieht und dabei der Suche der Physiker nach dem ‚Gottesteilchen‘ ähnelt: eine Chimäre, der man in Teilchenbeschleunigern, gewaltigen ringförmigen Anlagen hinterherjagt. Der Protagonist dreht sich um jenen Punkt, den ein jeder, Protagonist in seinem eigenen Leben, kennt, und der nur ungenügend durch den Umstand beschrieben wird, dass uns die Welt lediglich aus der Ichperspektive zugänglich ist. Wir drehen uns um einen Mittelpunkt, den wir mit dem Personalpronomen ‚Ich‘ etikettieren, der mehr ist, als wir je benennen könnten, und auch weniger: die eigene Identität. Identität kann nicht direkt formuliert oder dargestellt werden, denn damit würde das Identische bereits verlassen. Das mit sich identische Ich, das, reflektierend im Spiegel seines Badezimmers oder in dem seines Verstandes, sich selbst erkennt, erkennt das gegenüberliegende, spiegelverkehrte, andere. Das Erkennen des vermeintlich Identischen erschafft erst die Trennung von Erkennendem und Erkanntem. Wer wüsste das besser als Narziss? Die eigene Identität kann nicht erkannt, immerhin aber umkreist werden. Diesen Bahnen, diesen Versuchen eines sich selbst erkennenden Protagonisten werden wir hier folgen.
Der gesamte Essays kann auf Literaturkritik.de gelesen werden, hier. Aber nur anschauen, nix kaputtmachen!
Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
geschehn aus unablässigem Bestreben.
Aléa hat’s hierher gestellt,
und zwar soeben.
Geschrieben: April 30th, 2015 unter - Cărtărescu, Mircea - Orbitor, Der Länge nach, ruinös
Kommentar von holio
Datum/Uhrzeit 2. Mai 2015 um 12:35
Gratulation