22 Februar 2015
Mal mehr, mal weniger lustiges Potpourri am Sonntagnachmittag mit 100 Toten, einigen wenigen, nicht ausdrücklich genannten Aphrodisiaka, einer, allerdings umfassenden Obszönität und etwas Musik
„Heute ist in der Ukraine der 100 Toten gedacht worden, die vor einem Jahr auf dem Majdan erschossen wurden“. So lautete im Radio eine Schlagzeile. Ist das wirklich so schlimm? Ich meine nicht die 100 Toten, sondern die Tatsache, dass man im öffentlich rechtlichen Rundfunk offenbar der Meinung ist, dass jemand, der schon tot ist, noch einmal getötet werden kann: Es sind ja Tote erschossen worden. Es ist nur ein Lapsus. Eine Unachtsamkeit, die einem allerdings immer häufiger begegnet, in Zeitungen, im Radio, im Fernsehen. Man achtet nicht mehr auf die Worte. Wieso auch, es wissen doch alle, was gemeint ist. Und viel wichtiger: Es fällt den wenigsten auf. Allerdings sind da im Radio eine Menge Leute, denen es nicht auffällt.
„Wie geht’s weiter?“, fragte Holio in einem Kommentar. Ich könne mir, antwortete ich, keinen besseren Beruf als das Schreiben vorstellen, aber auch kein schlechteres Hobby. Und jetzt fragt auch noch Bersarin, in einem sehr langen Kommentar zum letzten Beitrag. Vielmehr, weil Fragen nicht seine Art ist, fragt er nicht. Ich muss zugeben, dass ich es nicht weiß. Dass ich es zum ersten Mal im Leben keine Antwort mehr habe. Ich hatte immer eine, als ich mich für ein Studium entschieden musste, als ich mich nach dem Studium für einen Job entscheiden musste, als ich mich nach dem Job für das Schreiben entscheiden musste. Als ich zum ersten Mal den Wunsch hatte, Schriftsteller zu werden, war es schlicht und ergreifend das Größte, was ich mir vorstellen konnte. Und das war es damals nicht nur bei mir. Heute ist es das Geringste, nicht nur, was gesellschaftliche Ächtung Achtung betrifft, die lediglich für die oberen Tausend gilt. Diese Einstellung hat sich gewandelt: Heute habe ich Hochachtung vor denen, die einem ehrbaren Beruf nachgehen. Wie ich es ja auch viele Jahre gemacht habe. Und auch wieder tun werde.
Seit ich das beobachte, seit ich mich gezwungenermaßen damit beschäftige, eine Beschäftigung, die allerdings meist darin besteht, mich schamvoll abzuwenden; jedes Jahr kommt mit absoluter Zuverlässigkeit eine Diskussion auf, in der der Literaturbetrieb sich selbst thematisiert. Als hätte er keine anderen Interessen. Zur Freude aller Beteiligten, denn sie sind Teil dessen, was sich thematisiert und so können sie auch in diesem Jahr wieder Artikel über sich selbst und den Literaturbetrieb schreiben und Geld verdienen. Im letzten Frühjahr war es die möglicherweise mangelnde Welthaltigkeit moderner Literatur, in diesem Jahr ist es die Bedeutungslosigkeit der Literaturkritik. Ausgelöst wurde es dieses Mal durch das Interview des Oberverbrechers vom Verbrecherverlag, Jörg Sundermeier. Anders als im letzten Jahr verlief die Debatte dieses Mal nicht einfach nur im Sand, sie gipfelte sogar in einem Kolloquium des Instituts für Buchwissenschaft der Johannes Gutenberg Universität: „Das Ende der Literaturkritik?“ Einige der Vorträge und einige andere kann man hier nachlesen.
An dieser allgemeinen Debatte waren nicht wenige beteiligt. Die Festangestellten der Zeitungen haben unisono behauptet, dass sie viel viel viel besser mit Literatur umgehen können als die Trottel mit ihrer „Laienanalyse“ (Sigmund Freud) aus dem Internet. Und die aus dem Internet haben behauptet, dass sie viel viel viel viel besser mit Literatur umgehen könnten, als die bezahlten Claqueure von den Zeitungen. So dass jetzt eigentlich alles wieder genauso ist wie vor der Debatte und wie vor allen Literaturdebatten, nämlich, wie gesagt, genauso wie vorher. Mit dem winzig kleinen Schönheitsfehler, dass alle, ob Holzklasse oder Ledersitze, immer mehr Leser verlieren. Meiner Einschätzung nach ist das Feuilleton durch die Konkurrenz aus dem Netz nicht besser, sondern schlechter geworden und die Literaturkritik im Netz ist bei Weitem nicht das bessere Feuilleton, denn was an der offiziellen Literaturkritik immer beklagt wurde, der Nepotismus, ist im Netz nicht weniger ausgeprägt. Von der Unabhängigkeit, von Objektivität ist hüben wie drüben nicht die Rede.
Es gibt keinen zuverlässigen Partner mehr für den Leser, der sich über Literatur informieren will. Man muss heute unglaublich viel Zeit und Mühe aufwenden, um einen guten Artikel in der Zeitung oder im Netz zu finden, jedenfalls wenn es um Literaturkritik geht. Man liest in tausend Texte rein und wieder raus, auf die Gefahr hin, dass man die wenigen wirklich guten Texte, die man eigentlich sucht, dabei übersieht. Was macht also der Leser, genauso wie der Weintrinker, der sich nicht auskennt mit Reben und Jahrgängen und Anbaugebieten und sich dann einfach volllaufen lässt? Er liest bloß das, was der kleinste gemeinsame Nenner hergibt, also die öffentlich wahrnehmbaren Buchpreise. Und ist dann häufig stinksauer, weil er am nächsten Morgen Kopfschmerzen hat. Zurecht. Weil man ihm keinerlei Möglichkeit an die Hand gibt, sich geschmacklich zu orientieren, geschweige denn sich weiterzubilden. Alle Schreibenden wenden sich immer an alle Leser. Weil es keine vernünftigen Kriterien gibt, das zu sortieren. Es ist eine Ewigkeit her, dass zuverlässig bestimmte Verlage eine hohe Qualität von Literatur garantiert haben. Auch ich schreibe nicht für alle, sondern eher für Frauen als für Männer, meist jenseits der Dreißig, überdurchschnittlicher Bildungsgrad, nicht oder nicht mehr verheiratet, nicht trauernd oder enttäuscht, aber auch nicht verbittert, hohes Einkommen, aufgeklärt, beim Umgang im Mund ein milder Hauch Romantik und Eigensinn, am Gaumen eine Note mediterraner Kirsche und, was schon zu ungläubigem Staunen verleitet hat, eine Andeutung von Rosmarin.
Hat irgendjemand in der Debatte eigentlich von uns Schriftstellern gesprochen? Oder liefern wir mal wieder nur das Material, mit dem die anderen arbeiten? Dabei sind wir es, die dafür sorgen, dass Hunderttausend Menschen in Lohn und Brot stehen, von den Holzfällern und Druckereien, zu den Verlagen, Literaturförderern, Stiftungen, Juroren und Preisvergebern, Promovenden und Praktikanten, Zweit-, Dritt- und Viertverwerter. Lektorate, wo unsere Romane und Novellen von links nach rechts gelesen oder von rechts nach links verschoben werden, bei Zeitschriften, wo unsere Essays gelesen werden. Unsere Texte, die durch die Republik transportiert werden, von Leuten, die die Treppen hoch und wieder runter hetzen. Leute, die meine Texte auspacken und wieder weiterverschicken, an mich zurückschicken oder bei Ebay verhökern. Leute, auf deren Couch wir liegen und klagen dürfen, denn in der Öffentlichkeit dürfen wir das nicht. Wir müssen immer gutgelaunt und frisch aussehen, jung und schön. Wir dürfen nie intelligenter sein als die, die über uns schreiben und reden und das von uns zur Verfügung gestellte Material loben oder in der Luft zerreißen. Wir müssen allen immer aus der Hand fressen. Wir sind eine armselige Herde Lemminge, weil keiner je einen großen Wettbewerb gewinnen wird, der sich zuvor mokiert hat.
Das Netz hat unglaublich viel verändert, in der Art und Weise unseres Zusammenlebens, wie wir Denken und Fühlen. Aber in der Literatur hat sich nahezu nichts getan. Außer, dass es immer mehr gibt, die schreiben und immer weniger, die lesen. Das sagt ja auch Bersarin: Reduziert euch. Und haltet endlichalle eure Klappe. Es ist tatsächlich ausgesprochen obszön, dass so viele schreiben. Dass so viele zu den Fleischtöpfen streben, von denen es nicht wenige gibt. Aber es kommen eben immer nur ganz wenige in Frage. Es sind wenige hundert, die die Preise und Stipendien bekommen, die auf die großen Festivals eingeladen werden etc. etc. Es ist obszön, dass wir, die wir Hunderttausend Menschen in Lohn und Brot halten, selbst solche Hungerleider sind. Wir müssten aufstehen und klipp und klar sagen, dass wir das nicht mehr machen. Wir schreiben keine Texte mehr. Wir schicken nichts mehr an Verlage, wir bewerben uns nicht mehr auf Stipendien und lehnen Lesungen freundlich, aber bestimmt ab. Wir verweigern uns einfach. Wir schreiben nichts mehr, vielmehr veröffentlichen wir nichts mehr. Anders als bei der Deutschen Bahn oder der Lufthansa, wo wegen Lappalien gestreikt wird, geht es bei uns um die gesamte Existenz. Und anders als dort, wo die Nutzer der Dienstleistungen das irgendwie regeln können, wird unsere Verweigerung zu einer regelrechten Panik führen. Eine solche Kündigungswelle hat das Land noch nicht gesehen. Es dauert kein Jahr und Merkel, Lammers und Gauck werden die Verhandlungsführer in einem Schlichtungsstreit, den wir nach Belieben dominieren können. Denn neben den Hunderttausend Arbeitsplätzen geht etwas viel Wichtigeres verloren und man wird erkennen, was eine Gesellschaft taugt, der die fiktionale Komponente genommen worden ist.
Ich habe mal wieder einen dieser unseligen Kommentare erhalten, der mir ganz klar vor Augen führt, dass das Netz durchaus geeignet ist, um Rezensönchen zu publizieren, aber nicht um eine eigenständige literarische Leistungen zu erbringen, wie ich sie meiner Auffassung nach erbracht habe und die sich, wenn sie Stephan Porombka, Professor an der UDK in Berlin, formuliert, so anhört: „Vor allem sollten wir die Art und Weise, wie ein Autor oder eine Autorin ihr Schreiben und Publizieren organisiert unbedingt als Teil des Werks verstehen: als experimentelle Performance, mit der versucht wird, die Literatur den neuen Bedingungen anzupassen.“ Die neuen Bedingungen von Literatur im Netz. Jemand machte mir eine kleine, aber feine Liste von Beschimpfungen, dass ich offenbar geistig gestört, schwul, pervers etc. sei, weil ich als Mann ein Blog als Frau führe. Ich weiß nicht, von wem das stammt. Die, die mir Anonymität vorwerfen, werfen meistens anonym. In der Regel sind das Männer, die offenbar der Auffassung sind, ein gewisses Anrecht auf jene Person zu haben, die sie sich unter dem Namen der Autorin vorgestellt haben. Ich bin Schriftsteller_in. Ob als Mann oder als Frau ist einerlei. Ich mache Kunst. Allerdings, das gebe ich zu, habe ich hier jahrelang nicht gesagt, dass es Kunst ist. Und deswegen dachten alle, es sei Natur. Meine Brüste seien echt. Nun stellt sich heraus: alles Silicon. Aber geil war‘s dennoch, gelle?
Abschließend die 17 Hippies.
Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
geschehn aus unablässigem Bestreben.
Aléa hat’s hierher gestellt,
und zwar soeben.
Geschrieben: Februar 22nd, 2015 unter voluminös
Kommentar von bersarin
Datum/Uhrzeit 22. Februar 2015 um 18:25
Liebe Aléa,
zunächst einmal: die, die Dir dieses Spiel der Identität vorwerfen, daß Du als Frau schriebst und es war am Ende keine rumänische Intellektuelle, sondern ein Mann, sind plötzlich mit ihren eigenen Erwartungen und Projektionen konfrontiert worden. Die Aggressionen gegen Dich würde ich in solchen Fällen eher als verdrängte und abgespaltene Autoaggressionen lesen.
Mein Kommentar mag wie eine Antwort wirken, aber das täuscht. Ich frage durchaus. Ich kleide aber nicht jede Frage in die Frageform, sondern bilde eine Anordnung von Sätzen, umkreise das Szenario. Es gibt in diesem Falle sicherlich keine einfachen Antworten. Allenfalls meinen Ratschlag unbeirrt weiterzumachen und weiterzuschreiben.
Die Diskussion zur Literaturkritik ist im Grunde unselig und bedeutungslos. Das, was Sundermann sagt, wissen wir alle seit langem. Ich predige es auf meinem Blog gefühlte Äonen lang. Insofern versuche ich auch weniger, an diese Debatte anzuknüpfen als sie in die Ausprägungen ästhetischer Theorie zu übersetzen: Das Verhältnis nämlich zwischen Kunst und Kritik, und insofern habe ich dies bei mir im Blog als eine Serie angelegt. Über deren Fortgang ich mir freilich noch unsicher bin.
Was Du zum Feuilleton und zur Bloggosphäre der Literaturambitionierten schreibst, teile ich wesentlich.
Nein, ein Schriftsteller muß nicht immer gut gelaunt durch die Welt laufen. Aber ich halte vieler Eurer Probleme für etwas, das nur bedingt in die Öffentlichkeit gehört. Es interessiert mich und viele anderen nur am Rande. Es ist nun einmal so: wer ins kalte Wasser springt und sich dieses Leben aussucht, der oder die hat es sich so ausgesucht. Der oder die wußten, was auf sie zukommt. Die Produktionsbedingungen eines Schriftstellers sind einzig dann interessant, wenn sie zu einem Stück Literatur werden oder wenn wir es soziologisch betrachten oder eben gesellschaftskritisch im Gesamt. Deshalb mein Hinweis in die Klammer geschrieben. Stephan Porombkas These möchte ich insofern widersprechen. Nun mag man Deinen Blog sowie den von ANH nehmen, um Porombkas These zu illustrieren, daß das Private nicht nur politisch, sondern zuweilen auch literarisch wirkt. Ich bin aber gegen beide Varianten sehr skeptisch. Den bei den Klagen um die Existenz, die nicht immer so verläuft, wie man es sich vorstellt, mischt sich leicht das Schale der Tagebuchnotiz. Wollen wir wirklich, wie bei Thomas Mann lesen: mich gestern beim Rasieren geschnitten? Oder schlimmer noch in den Tagebüchern des furchtbaren Juristen Carl Schmitt: habe schlecht geschlafen, habe onaniert, habe schlecht geschlafen, hatte keinen Sex, aber dafür onaniert, bin spät zu Bett und habe schlecht geschlafen und im Bett nach dem Schlecht-Geschlafen mich selber befriedigt. Ergänzt um Befunde der Verdauung? Wollen wir dieses Private wirklich als Literatur im Modus-eins-zu-eins lesen? Die Welt der Blogs scheint dies möglich zu machen, und dies ist leider der schlechte Teil des Bloggens. Bin Fahrrad gefahren. Ja, gut und weiter? Das ist doch Big Brother der Literatur.
Ja. Es ist so: manchmal muß einer das für ihn Wichtigste als Nebenbei betreiben, obwohl es gar kein Nebenbei ist. (Ich weise übrigens, obwohl ich diese Selbstzitate und Selbstverlinkungen eigentlich nicht besonders mag, auf meinen Blogartikel hin, der meinen langen Kommentar bei Dir noch um einige Aspekte erweitert hat. So ist er dann noch länger geworden. Wie das so geht.) Schreiben von Literatur ist kein Hobby. Und es bedeutet keineswegs, daß es nur dadurch zum Hobby wird, weil Du nach der Arbeit oder in Deiner Freizeit diese literarischen Texte schreibst. Doch es ist wie es ist: Von der Literatur können die wenigsten leben. Ich habe mir zum Glück ein Schreibgebiet ausgesucht, das man wunderbar in einem Blog ausfüllen kann. Ich bin nicht auf die gedruckte Form des Buches und auf Vorträge angewiesen. Dennoch: schön wäre es schon, wenn von mir Bücher erschienen, wenn ich als Privatdozent für Ästhetik und ästhetische Theorie meinen Lebensunterhalt bestreiten könnte. Doch dem ist nicht so. Was würde es nützen, wenn ich diesen traurigen Umstand in meinem Blog ausbreite und über meine Erfolglosigkeit klage und über die geringe Reichweite meiner Texte? Nichts. Insofern muß ich mir Modalitäten suchen, wie ich dieses Dilemma bzw. diese Paradoxie meistere oder zumindest mit ihnen umgehe: das Paradoxon nämlich, daß das, was mir am wichtigsten ist, sich durch die Erwerbsarbeit in gewissem Sinne zu einer Nebensache degradiert. Ich selber „opfere“ viel von meiner Zeit für dieses Schreiben und Lesen und den Umgang mit Kunst und Photographie. Nein, ich opfere sie nicht: dies ist meine Zeit, dies ist mein Leben. Wir müssen uns den Essayisten und den Schriftsteller als glückliche Menschen vorstellen. Denn sie besitzen eine Gabe, zu der nur wenige fähig sind: Gekonnt zu komponieren und Erlebtes, Erahntes, Reflektiertes in die Form zu bringen und in Sätzen schreiben zu dürfen, die auf ein Allgemeines zielen.