07 Dezember 2014
Je weniger die Sprache ein Buch trägt, umso mehr Handlung braucht es
Viele, vermutlich sogar die meisten Leser wollen, wenn sie ein Buch lesen, Handlungen. Sie wollen wissen wie, was auf der ersten Seite beginnt, weitergeht. Und weitergehen kann es ihrer Meinung nach nur über die Handlung. Alles, was den Fortgang der Ereignisse hindert, zu viele oder zu wenig Personen und Dinge, zu differenzierte Charaktere, die ausbearbeitet und dargestellt werden müssen, ja, sogar die Sprache selbst ist bloß hinderlich. Und weil die meisten Leser nicht nur wissen wollen wie es weiter-, sondern vor allem, wie es ausgeht wär man am liebsten schon mit dem Buch am Ende. Das beste Buch ist das, bei dem man nach der ersten gleich zur letzten Seite springen kann, weil der Mittelteil sowieso nur eine Form der Hemmung ist. Statt gleich zu sagen was passiert, muss der Held in vielen Romanen erst elend lange geläutert werden, allerlei Gewissenskonflikte bestehen, in Liebesdingen Glück und Schmerz erleiden, mehr verlieren als je ein Mensch gewinnen kann und schließlich erkennen, dass selbst er, der Held seines eigenen Lebens, nur einen begrenzten Einfluss auf den Ablauf der Ereignisse hatte, weil sie nicht konzentrisch auf ihn zulaufen, sondern meist an ihm vorbei; all solche Dinge, bis es endlich an die letzte Seite geht, wo, hoffentlich, die Liebenden sich in den Armen liegen.
Je weniger die Sprache ein Buch trägt, umso mehr Handlung braucht es. Sprache dient dann lediglich dazu, diese Handlung zu berichten. Die Wörter, mit denen das stattfindet, sind den Ereignissen aber eigentlich sogar im Weg. Das liegt natürlich am modernen Leser. Wir brauchen Ereignisse, heute mehr denn je. Wir hetzten von Ereignis zu Ereignis, die immer dichter aneinander rücken, damit keine leeren Stellen dazwischen liegen. Leerstellen sind für handlungsorientierte Menschen geradezu fruchterregend. Viele Menschen, so hat eine Untersuchung ergeben, ein Bericht in der FAZ, der, so scheint es, nicht online ist, können es nicht ertragen, auf sich selbst reduziert zu werden. Sie würden eher Schmerzen empfinden wollen, als sich einen Tag lang nur mit sich selbst und den eigenen Gedanken beschäftigen zu müssen. Handlung ist auch Ablenkung vom eigenen Selbst. Selbstverständlich findet sich das auch in der Literatur wieder, die Auffassung, dass ein in einem Buch dargestelltes Leben auf seiner Handlung aufbaut (und dann letztlich natürlich auch das Buch selbst, das nach Handlung verlangt (sonst kommt der Leser womöglich noch auf den Gedanken, dass es sich bei der dargestellten Person um eine handlungsunfähige (und damit im Grunde auch darstellungsunfähige Person handelt, (vielmehr nicht handelt)))). Meiner Auffassung nach können andere Medien, allen voran der Film, Handlungen sehr viel besser darstellen. Medien, die nicht auf die Sprache angewiesen sind. Denn das ist die Handlung ja in ihrem Kern: eine Tat. Und die Tat braucht die Sprache nicht. Sie ist ihr sogar im Wege.
Eine rein äußerliche Handlung, die bloße Tat, finde ich sterbenslangweilig. Ein character der von der Couch aufsteht, die Wohnung verlässt, beim Nachbarn klingelt und ihm unangekündigt eine aufs Maul haut: der interessiert mich nicht. Sehr viel interessanter ist der character der auf der Couch sitzen bleibt und sich vorstellt, zum Nachbarn rüberzugehen und ihm endlich mal richtig was aufs Maul zu hauen. Ich bin sogar der Auffassung, dass es kaum einen größeren Unterschied zwischen zwei Romanen geben kann, als zwischen diesen beiden Varianten. Und nur die zweite Variante richtet sich an einen mündigen Leser. Nur die hat einen Bezug zu ihm. Denn der Leser ist keiner, der zum Nachbarn rübergeht. Der Leser ist einer, der auf der Couch sitzt und sich, unter Zuhilfenahme eines Buches vorstellt, rüberzugehen; oder was immer man ihm in dem Buch auftischt, das er gerade liest. Und er macht das, weil er weiß, dass das die sehr viel interessantere Tätigkeit ist: dasitzen und lesen und sich was vorstellen. Sich Dinge vorstellen, die er de facto gerade nicht tut. Wüsste er das nicht, würde er das Buch weglegen und etwas tun.
Der Artikel im KLG spricht bei meinem ersten Roman von „weitgehend reduzierter“ und beim zweiten von „denkbar ereignisloser“ Handlung. Bei meinem dritten Text ist diese Tendenz noch ausgeprägter. Allerdings wird da auch ein character in der letzten Sekunde seines Lebens beschrieben, und die zeichnet sich, so meine ich prognostizieren zu dürfen, vor allem durch ausgeprägte Handlungsarmut aus. Dafür bin allerdings nicht ich als Autor_in verantwortlich, sondern der Leser. Denn der ist es, der nahezu bewegungslos auf der Couch liegt und sich mit Worten zufriedengibt. Soll er doch aufstehen und zum Nachbarn rübergehen, klingeln und ihm, weil ihn Handlungsarmut nervt, was aufs Maul hauen. Es ist nicht mein Job, ihn davon abzuhalten oder ihn sogar zu ermutigen. Mein Job sind nur die Worte. Ob die als handlungsintensiv, spannend oder lustig, als Ermunterung zu oder Verhinderung von Taten empfunden werden fällt vollständig in den Verantwortungsbereich des Lesers.
Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
geschehn aus unablässigem Bestreben.
Aléa hat’s hierher gestellt,
und zwar soeben.
Geschrieben: Dezember 7th, 2014 unter voluminös
Kommentar von Stephanie
Datum/Uhrzeit 7. Dezember 2014 um 11:25
Liebe Aléa,
ich denke, dass sich ein Schriftsteller nicht in erster Linie nach den Lesern richten sollte. Viel mehr danach, was er eben zu sagen und damit zu geben hat. Genau dadurch entsteht die Vielfalt an Literatur, die ich sehr schätze.
Allerdings sind Bücher für viele Menschen eine Art Droge, die sie in Träume hineinzieht von Leben, die sie selber niemals führen werden. Ich selber lese manchmal aus diesem Grund und dann ist die Handlung natürlich wichtig. (Wobei eine gute Geschichte meiner Meinung nach nicht ohne einer reichen Sprache existiert.) Aber das ist nur ein Aspekt des Lesens, auf den nicht die ganze Buchproduktion ausgerichtet sein sollte.