10 November 2014
Aléa Torik im “Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur”
Ein durchaus besonderer Moment im Leben einer Schriftsteller_in ist – soll man es Kanonisierung nennen? – der Eintrag in einem Lexikon. Es ist immer ein besonderer Moment, wenn man erfährt, was andere über das schreiben, was man selbst geschrieben hat. Ich habe mich über jede der Rezensionen gefreut. Allerdings hatte ich auch allen Grund dazu. Dennoch waren das Ereignisse im Rahmen des Literaturbetriebs, der seinen eigenen Gesetzen folgt, die nicht unbedingt mit denen im Deutschen Grundgesetz übereinstimmen müssen. Ein wissenschaftlicher Essay im KLG ist anders kalibriert.
In seiner Einleitung folgt der Essay meinem Tun in den vergangenen Jahren, unter besonderer Berücksichtigung des Internets, und erkennt, was ich in dieser Deutlichkeit bisher übersehen hatte: „An der Autorfiktion ‚Aléa Torik‘ zeigen sich somit auch jene Herausforderungen, welche die Netzliteratur zwischen fiktionaler und realer Autorenexistenz an die literaturwissenschaftliche Theoriebildung stellt.“ Wenn die Autorin, ich nämlich, sich dann noch in den Diskurs einmischt, der in der Regel über die Köpfe der Produzenten hinweg ausgefochten wird, nämlich Kommentierung von Rezensionen, zur Not auch behutsame Korrektur (hehe!), und Selbstinterpretierung eigener Texte, wird es entweder problematisch oder interessant.
Im Fortgang des Essays werden die beiden Romane ausführlich besprochen, auf eine Weise, die wiederholt die Aufmerksamkeit darauf lenkt, dass da ein poetisches Programm im Hintergrund steht, welches, so unterschiedlich sie auch sein mögen, beide Texte umfasst, nämlich die Ausweitung der literarischen Zone über die Grenzen der Buchdeckel hinaus. Die Grundidee von „Das Geräusch des Werdens“ ist die, „dass Lebensentwürfen immer schon ihre nicht verwirklichten Alternativen als gleichwertige Möglichkeiten inhärent sind“. Genau das führe ich dann mit dem zweiten Roman, der ein Weblog in seinem Kielwasser mitführt, vor. Die Suche nach Identität – nach irgendeiner oder der eigenen – ist das Thema aller meiner Figuren, mögen sie genauso heißen wie ich, mögen sie ähnlich heißen oder vollkommen anders. Diese Möglichkeit anders zu sein, kann sowohl als Freiraum – den Schriftsteller natürlich auf eine ganz besondere Weise ausfüllen und erleben können – verstanden werden, wie auch, gerade in Zeiten, in denen Eindeutigkeit ein erheblicher Wert ist, als Infragestellung der eigenen Person. Identitätssuche zwischen Wirklichkeit und Fiktion: ich bin der Überzeugung, dass wir das nicht trennen können und dass das Konzept des sogenannten “Fiktionsvertrags” zwischen Leser und Autor vielleicht noch möglich ist, nicht jedoch für die jeweilige Person selbst. Was einer ist, ist nicht auf der einen oder anderen Seite zu verorten. Im Gegenteil: Wirlichkeit und Fiktion sind dabei in der Regel ein wildes Gemengelage. Spätestens mit dem Netz ist diese rigide Trennung sowieso nicht mehr möglich (dazu habe ich mich bereits in aller Ausführlichkeit hier geäußert).
Es werden in dem Essay nicht nur die Postmoderne – ein Begriff, den ich gar nicht so gerne höre -, sondern mit der deutschen Romantik und vor allem, was mich wirklich freut, mit dem Magischen Realismus jene Traditionslinien genannt, in denen ich stehe und mit Borges und Cărtărescu auch zwei Schriftsteller, deren Texte ich sehr schätze. Svenja Frank nennt nicht nur die verschiedenen Bezüge, sondern betont auch, dass das Teil meines poetischen Programms ist, das man als „Poetisierung der Wirklichkeit“ bezeichnen könnte:
„Der Gedanke, dass sich Identität im Zusammenspiel von Wirklichkeit und Möglichkeit formiert, war bereits grundlegend für das Erstlingswerk; in „Aléas Ich“ wird er mit der Romanpoetik verknüpft. Denn der Roman ist zugleich Geschichte seiner Entstehung. Anfangs- und Endpunkt bildet die Zentralbibliothek der Humboldt-Universität, wo Aléa arbeitet: Der Leser blickt mit der Autorin auf die erste Seite jenes Textes, den sie zu schreiben beginnt. Romantext und Textwelt, Erleben und Erzählen, Wirklichkeit und Fiktion fallen zusammen. Durch die Ausweitung dieser Idee auf den Paratext – Autorenname, Danksagung und Kurzbiografie – werden überdies auch fiktiver und realer Text eins, und der vorliegende Roman wird zum radikalen Ausdruck seiner selbst, indem er Realität und Imagination vereint. Die Autorfiktion „Aléa Torik“ wird im zweiten Roman folglich zum konstitutiven Bestandteil des poetologischen Prinzips. Die fiktive Autorin schafft sich selbst als Ich realiter im Erzählen. Zugleich Autorin und Figur, entscheidet Aléa über das Schicksal ihrer Mitmenschen, denn ihr Erzählen ist stets performativer Akt, das Leben folgt – in Anlehnung an Oscar Wilde – ihrem Schreiben, nicht umgekehrt. Wenn die Erzählerin von sich behauptet: „Ich lebe nach literarischen Gesichtspunkten“, so ist dies folglich keine Metapher. Die Überlagerung der Zeit- und Narrationsebenen bewirkt, dass Romanwirklichkeit und Aléas „vorauslaufende (…) Einbildung“ nicht unterschieden werden können.“
Der Essay schließt mit einer Bemerkung zum 11. September 2011. Der Tag kann durchaus als Verweis auf „nine/eleven“ gelten. Es ist der Tag, an dem der Roman beginnt: Jemand springt aus dem Fenster. Möglicherweise Olga, die Mitbewohnerin Aléas, ihr alter ego, die vermeintlich nach New York gegangen ist. Das kann auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass mit „nine/eleven“ zum ersten Mal, so empfinde ich das, ein Ereignis so vollständig medialisiert worden ist, dass später gar nicht mehr zu sagen war, ob sich das, was im Fernsehen zu sehen war, wirklich ereignet hat oder ob es sich um Ausschnitte aus einem Film, in dem das Word Trade Center von Terroristen angegriffen wurde, gehandelt hat. Auch hier ist das Thema Wirklichkeit und Fiktion wieder präsent. [Nachtrag: sie tauschen im Grunde genommen ihre Plätze: die Fiktion wird so hyperreal, dass die Wirklichkeit, die dieses Übermaß an Realität gar nicht erbringen kann, nun wie eine Fiktion erscheinen muss.]
Ich hatte aber noch etwas anderes im Sinn, als ich dieses Datum gewählt habe – und auch jetzt beteilige ich mich wieder an der Interpretation – und Svenja Frank weist im Grunde genommen mit zwei Bemerkungen zu den Romanen schon in die richtige Richtung – nämlich, dass da sehr wenig passiert, reduzierte äußerliche Handlungen -: Der 11. September ist der Tag, an dem Malte – Rainer Maria Rilke, Die Aufzeichnungen des Malte Laurigs Brigge – mit seinen Aufzeichnungen in Paris beginnt. Beide, Aléa und Malte, sind zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt. Paris ist im 20. Jahrhundert, was New York im 21. Jahrhundert ist – ob Walter Benjamin diesen Satz unwidersprochen ließe? -. Rilkes Roman ist ein Text, der kaum Handlung vorweisen kann. Weitab vom realistischen Roman seiner Zeit, steht in diesem Text etwas im (imaginären) Mittelpunkt, was gar nicht da ist: der Erzähler. Und der realistische Roman hängt vor allem am Erzähler (behaupte ich), der scheinbar objektiv dem Leser die Ereignisse berichtet. Diese Objektivität ist zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlorengegangen. In Rilkes Roman haben wir einen Erzähler, der sich und sein Sehen, sein Bewusstsein und damit seine mangelnde Objektivität thematisiert. Malte versucht, als Dichter zu leben. Wie Aléa. Malte schreibt Tagebuch, Aléa ein Blog. Beide reflektieren über dieselben Dinge: Liebe und Einsamkeit, Sprache und Wirklichkeit, und vor allem über diesen seltsamen Begriff der Neuzeit, der in der Folge der untergehenden Objektivität nach oben gespült wird: Identität. Im Mittelpunkt dieser Aufzeichnungen steht das betrachtende Ich, das es selbst wird, indem es die Welt erkennt. So ist das auch in Aléas Ich, allerdings mit einer entscheidenden Weiterentwicklung – vielleicht tatsächlich der Postmoderne geschuldet – der Leser schaut dem Entstehen des Ichs zu, während das Ich bei Rilke schon vorher da war.
Ich vermute, wenn man das Dissertationsprojekt von Svenja Frank anschaut, dass Aléa Torik auch dort Erwähnung finden wird. Dissertationen und Romane ähneln einander, nicht nur darin, dass beide Narrative sind, sondern vor allem in dem Umstand, dass die Sache nicht von Anfang an so klar ist wie sie am Ende erscheinen muss. Und so lange, also jeden Tag, muss die ‘vorauslaufende Einbildung’ vorbauen, was am Ende da stehen soll. Mit anderen Worten: das muss ja auch alles erst einmal geschrieben werden. Bis dahin kann sich der interessierte Leser und die interessierte Leserin mit ihrem Essay zufriedengeben, im Kritischen Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
geschehn aus unablässigem Bestreben.
Aléa hat’s hierher gestellt,
und zwar soeben.
Geschrieben: November 10th, 2014 unter Allzupersönliches, voluminös
Kommentar von NO
Datum/Uhrzeit 12. November 2014 um 13:13
Ich gratuliere! Und zwar herzlich! Und freue mich für Sie (und für mich auch ein bisschen …)
Wie findet’s denn der Verleger?
Beste Grüße
NO