01 August 2014
Der gestiegene Erlebnisdruck
Ich war im Urlaub. Außer Erinnerungen habe ich nichts mitgebracht, keine Bilder, keine Andenken, keine Postkarten. Je mehr ich in den Sümpfen der Schriftstellerei versinke, desto weniger bedeuten mir Gegenstände. Es waren nur einige Tage, zu kurz, um richtig weg gewesen zu sein. Zu kurz, um sich zu erholen. Lang genug aber, um zurückzukehren und sich zu erinnern. Lang genug, um davon zu erzählen.
Etwa von einem geradezu kafkaesken Tag in Bozen. Ein Freund und ich, wir sind um des Radfahrens willen in Südtirol gewesen. An dem einzigen Regentag haben wir die Räder stehen lassen und sind mit dem Auto von Meran nach Bozen gefahren. Meran und Bozen unterscheiden sich dahingehend, dass die eine Stadt in den Bergen liegt, in der anderen liegen die Berge in der Stadt. Bereits bei der Einfahrt, also der Einfahrt in den ersten Tunnel, wurde vor Überfüllung des Zentrums gewarnt. Es wurde nicht gewarnt, es wurde konstatiert. Immerhin regnete es im Tunnel nicht. Bei der Ausfahrt, der erneuten Einfahrt in den Regen nämlich, wurde die Autoschlange von einem Polizisten geteilt. Die eine Hälfte wurde in ein am Ausgang des Tunnels befindliches Parkhaus geleitet, die andere Hälfte durfte in die Stadt fahren. Zu letzteren gehörten auch wir, die wir uns da noch zu den Glücklichen zählten. Von dem Moment an wurden wir in ein automatisches Parksystem in einer ersten und einer zweiten Ebene eingereiht. Wir wurden mit rot und grün blinkenden Schildern am Straßenrand begrüßt, elektronische Vertreter von Parkhäusern in der Nähe des eigenen Standtortes, auf denen die alle paar Sekunden die wechselnde Anzahl der freien Parkplätze angezeigt wird. Es gab keinen fließenden Verkehr, es gab nur stockend, sich hupend vorwärts bewegende Autoschlagen, die ineinander übergingen. Es gab keine einzelnen Autos, alles wurde, von ununterbrochenem Regen verwaschen, zu einer einzigen Autoschlange, die ihre unzähligen Köpfe in alle Richtungen streckte. Man entscheidet sich für eines der vielen Parkhäuser und wenn man dort angelangt ist, steht man in einer anderen Schlange, weil in dem Parkhaus kein Parkplatz frei ist. Man steht da in der Schlange und es regnet und während man da steht und die Zeit wie Regentropfen an den Seitenfenstern verrinnt, ahnt man, dass auch keiner frei werden wird. Dann fährt man wieder weg und reiht sich erneut in die Schlange auf der Straße ein, um einem anderen grün blinkenden Schild zu folgen, auf dem Parkplätze als verfügbar angezeigt werden, die, sowie man dort angelangt sind, schon wieder besetzt sind. Oder die nie frei waren. Wir haben uns als nicht sonderlich belastbar erwiesen, recht schnell auf alle weiteren Eindrücke von Bozen verzichtet und sind in Richtung Autobahn zurückgefahren, also gekrochen. Und dann sprang vor unseren Augen plötzlich ein Schild um und zeigte freie Parkplätze in dem Parkhaus an, dessen Einfahrt unmittelbar vor uns lag und das genau das Parkhaus war, an dem der Polizist uns bei der Einfahrt in die Stadt vorübergelotst hatte. Erleichtert zogen wir ein Ticket, wir zählten uns erneut zu den Glücklichen.
Aber auch hier war kein Parkplatz zu finden, dafür jede Menge Autos, die die besetzten Plätze umkreisten, auf der Suche nach etwas, das es ganz offensichtlich nicht gab. Und als wir dann die Angelegenheit endgültig an den Nagel hängen und zurück in unser Dorf in der Nähe von Meran fahren wollten, mussten wir einen kleinen Umweg über den Kassenautomaten machen, der die in Anspruch genommene Leistung abkassierte. Und da erst haben wir dann verstanden, dass tatsächlich in all diesen Autos und unter all diesen Regenschirmen da draußen Menschen waren und dass das Bozener Parksystem, nicht etwa eine Fehlfunktion hat, das uns irrtümlicherweise in die Irre geleitet hatte, sondern voll funktionsfähig ist. Glück ist in diesem System nicht vorgesehen. Jedenfalls nicht das reine Glück, höchstens das abgeleitete, zufällige, bei dem es ausreicht, sich für glücklich zu halten, um glücklich zu sein. Das billige Glück.
Es gab ein Gespräch mit unserer Vermieterin, die über das veränderte Urlaubsverhalten der Menschen klagte. Aber sie klagte auch über ihre Kinder und die Welt insgesamt. Früher sagte sie, sei man für drei Wochen gekommen, heute bleibt schon lang, wer nicht nach dem Wochenende abreise. Natürlich hat sich das Urlaubsverhalten verändert, unser gesamtes Arbeitsleben hat sich in der vergangenen Dekade geändert. Undenkbar, dass, wer sich von dieser Arbeit erholt, es auf althergebrachte Weise tut. Man muss sich auf eine neue Weise erholen, die der veränderte Arbeits- und Lebenswelt entspricht. Und wir verhalten uns im Urlaub nicht anders als im alltäglichen Leben. Wir brauchen permanent neue Erlebnisse und der Erlebnisdruck ist enorm gestiegen. Wir hetzten von Ort zu Ort auf der Suche nach dem Neuem, dem Aufregendem. Auch wenn wir eigentlich die Ruhe finden wollen, können wir sie nicht ertragen, weil sie in Abwesenheit von Ereignissen stattfindet und wir diesen Zustand als Leere empfinden. Die Leute sitzen in Meran, sie finden‘s nett, und überlegen, ob sie am nächsten Tag nicht doch lieber nach Verona, nach Mailand, Venedig oder an den Gardasee fahren. Weils woanders vielleicht besser. Einen Tag später sitzen sie dann anderswo und denken sich, dass es nett ist. Aber nicht das, was sie von den Bildern und Geschichten über den Gardasee, Verona oder Venedig kennen. Eigentlich kennen sie schon alles, nicht in der realen, selbst erlebten Version, sondern in der, die von der eigenen differiert und von der sie gar nicht sagen können, woher sie sie haben.
Wir kennen heute alles ohne irgendetwas zu kennen. Die Ruhe, die wir suchen, finden wir nicht mehr. Wir finden nicht einmal mehr einen Parkplatz, wo wir von der Suche nach ihm ausruhen können. Vielleicht ist die Differenz zwischen Suche und Fund auch so groß geworden, dass wir den Zusammenhang gar nicht mehr begreifen. Das nicht finden können eines Parkplatzes hatte möglicherweise mit der realen Parkplatzsituation in der Stadt Bozen gar nichts zu tun.
Wenn ich jetzt Lust hätte in die allgemeine Klage einzustimmen, dass das Lesen seinen Stellenwert verloren hat: weil es kein Erlebnis mehr bereit hält und es uns, die wir immer hierhin und dahin klicken und die Orte wechseln, geradezu unerträglich ist, stundenlang an derselben Stelle zu hocken und bloß in ein Buch zu schauen. Aber ich habe keine Lust zu dieser Klage. Zum Glück. Zum billigen Glück! (Zum billigen Glück – das wäre doch ein schöner Romantitel.)
Mein eigenes Schreiben ist immer präsent. Entweder der letzte, beinahe abgeschlossene Text oder der kommende, sich andeutende. Und das empfinde ich, auch wenn diese Texte einen kaum je nachlassenden Druck auf mich ausüben, als das Gegenteil dieses gestiegenen Erlebnisdrucks. Ich sitze Monate und Jahre an denselben Worten und Vorstellungen und kann mich auch nicht hetzen lassen. Ich kann es nur aussitzen. Im Schriftstellersumpf ist jede verfrühte Bewegung fatal.
Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
geschehn aus unablässigem Bestreben.
Aléa hat’s hierher gestellt,
und zwar soeben.
Geschrieben: August 1st, 2014 unter voluminös
Kommentar von holio
Datum/Uhrzeit 1. August 2014 um 12:32
Kenne das von Chinesen. Da ist an ungeraden Tagen – heute ist so einer, der erste August – nur Autos mit ungeraden Nummernschildern das Fahren erlaubt. Eine ganz praktische Segmentierung, man sollte Halt vorher um sie wissen.
Schön Ihr Konjunktiv “wir hetzten”, der es als Aussage ihrer Zimmerwirtin ausweist. War kurz versucht, es als “hetzen” und damit Ihre zu lesen. Schön auch “differiert”; das benutzt heut kaum noch einer.
Schreiben ist immer besser denn Konsumieren. Der Geist hat die fantastische Fähigkeit, sich die Langeweile zu vertreiben. Stefan Zweig hat das mal wo beschrieben, obwohl ich kein Schach spiele. Kritik an kulturellem Verfall schön und gut. Schon bei Petron klagt Agamemnon (不是, umgekehrt, der Erzähler Encolpius zu Agamemnon, wohl um ihn zu beeindrucken!) drüber: “Vor nicht langer Zeit kam eine windige und ganz enorme Geschwätzigkeit von Asien nach Athen.”, übersetzt von Harry C. Schnur. Und auch auf die bildende Kunst bezogen: “Mit der Malerei ist es nicht anders ergangen, seit die Ägypter in ihrer Frechheit ein abgekürztes Verfahren für eine so große Kunst erfunden haben.” Nichts Neues unter der Sonne. Einfach weitermachen und sich mit seiner Widerborstigkeit behaupten. Bin ins Schwätzen geraten, 对不起。