25 April 2014
„Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“
Im Folgenden mein im vergangenen Jahr in der Jungen Welt publizierter Essay zu Pierre Bayards “Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat“.
Bücher sind ein Problem. Mehr als eins. Erstens sind sie oft unansehnlich. Wir aber kaufen lieber hübsche Dinge, weil wir gewohnt sind vom Äußeren auf das Innere zu schließen. Zweitens sind sie, wo man Giga- und Terabyte in der Hosentasche herumtragen kann, unhandlich und unnötig schwer; und mitunter sind sie auch noch schwer zu verstehen. Und drittens haben wir heute keine Zeit mehr. Vielleicht haben wir noch die Zeit, Bücher zu kaufen; aber zum Lesen haben wir die Zeit nicht. Und hätten wir sie, müssten wir feststellen, dass es ein schwieriges Unterfangen ist, ein literarisches Urteilsvermögen herauszubilden: man braucht dazu jenes gefestigte Verständnis, das man sich durch die Lektüre doch eigentlich erst aneignen wollte.
Da kommt ein Buch wie dieses gerade recht. Das französische Original bedient sich der Frageform – „Comment parler des livres que l’on n’a pas lus?“ -, eine Formulierung, die die deutsche Übersetzung nachgerade in eine Anleitung verwandelt. Genau genommen müsste der Titel lauten: Dass man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat. Dieser Essay ist kein Ratgeber, es ist vielmehr eine Ausdeutung der Tatsache, dass wir die meisten Bücher, die wir gelesen zu haben vorgeben, tatsächlich nicht oder kaum kennen und, „dass unsere Beziehung zu Büchern kein kontinuierlicher, homogener Prozess ist, wie uns manche Kritiker glauben machen möchten, auch nicht der Ort einer luziden Kenntnis unserer selbst, sondern ein obskurer, von Bruchstücken der Erinnerung heimgesuchter Raum, dessen – auch schöpferischer – Reiz mit den nebelhaften Phantomen zusammenhängt, die darin umgehen.“
Pierre Bayard ist Professor für Literaturwissenschaft, kennt sich also mit Texten und vor allem mit Rezeptionsgewohnheiten aus, seinen eigenen und denen seiner Studenten. Er macht deutlich, dass wir mit ‚Lesen‘ sehr unterschiedliche Verhaltensweisen bezeichnen. Lesen und Nicht lesen sind einander sehr ähnlich: „Lesen bedeutet in erster Linie nicht lesen, und selbst bei den großen Lesern, die ihr ganzes Leben der Tätigkeit verschrieben haben, verbirgt die Geste des Ergreifens und Öffnen eines Buches stets die ihr entgegengesetzte, die darin enthalten ist und demzufolge unbemerkt bleibt: die unfreiwillige Geste des Nichtergreifens oder Zuklappens sämtlicher Bücher, die bei einer anderen Organisation der Welt an die Stelle des glücklich auserwählten hätten treten können.“
Der Bereich zwischen Lesen und Nichtlesen beschränkt sich nicht nur auf die Differenz von kursorischem Lesen und systematischem Durcharbeiten, sondern schließt auch mit ein, dass man mitunter nicht sagen kann, ob man ein Buch gelesen hat oder es nur aus den Erzählungen anderer kennt und ob man die Ansichten anderer dazu bestätigt oder widerlegt wissen will. Auch schreiben wir beim Lesen, das vom Autor geschriebene Buch radikal um, und bemerken es in der Regel nicht einmal. Und schließlich vergessen wir das meiste schneller als wir neues aufnehmen können: „Was wir für gelesene Bücher halten, ist ein bunter Haufen von Textfragmenten, verformt durch unsere Imagination, ohne Beziehung zu den Büchern der anderen, wenn sie auch materiell mit denen identisch sein mögen, die wir in der Hand gehabt haben.“
Der Autor zitiert wiederholt die großen Autoren – Proust und Valery, Musil und Montaigne -, was auf den ersten Blick seine eigenen Thesen zu konterkarieren scheint. Möglicherweise hat er sie tatsächlich nicht gelesen, sondern hat sich, was er für seine These brauchte, herausgefischt. Bildung sei sowohl die Fähigkeit, sich innerhalb eines Buches zu orientieren, als auch innerhalb der Menge aller Bücher. Über Bücher sprechen zu können, ist noch immer ein Ausdruck von Macht, in dem sich die Vorstellungen einer Gesellschaft über Bildung artikuliert. Bayard vermag solchen allgemein bekannten Einschätzungen wiederholt sehr kreative Positionen zu entlocken. Sein eigener Ansatz ist der der Provokation, wenn er etwa behauptet, dass seine Studenten in ihren Beiträgen zu einem Text, jene Originalität mitbrächten, zu der sie nicht fähig wären, wenn sie das Buch gelesen hätten. Das mag durchaus so sein, die Frage ist allerdings, was diese Originalität vermag.
Wenn man sich die vielen Versuche, Literatur zu kanonisieren, anschaut, wo „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ebenso häufig wie die „Todesfuge“ auf den vordersten Rängen stehen, muss man sich ernstlich fragen: Wer hat das gelesen? Wer hat sich damit auseinander gesetzt? Denn sowohl Roman als auch Gedicht verfügen nicht gerade über eine intuitive Bedienerführung. Ohne eine intensive Beschäftigung sind beide Texte nur mehr oder weniger lange Aufzählungen von Worten. Spezialistenliteratur, die angeblich von Hinz und Kunz gelesen wird, während der arrivierte Literaturwissenschaftler Bayard zugibt, sie nicht zu kennen. Da fragt man sich, ob diese Literatur so einflussreich ist, weil sie gelesen wurde oder weil gelesen wurde, dass sie einflussreich sein soll: ob also ihr Ruhm nicht mehr und nicht weniger ist, als das Gerücht ihres Ruhms.
Pierre Bayard geht mir allerdings einen Schritt zu weit, wenn er am Schluss mit Oscar Wildes Begriff der Kritik – dass man nicht zum eigenen kommt, wenn man immer nur anderes zur Kenntnis nimmt – rezipierenden und produzierenden Anteil gegeneinander ausspielt und zu dem Ergebnis kommt: Schöpfung bedeute, „dass man sich nicht allzu sehr mit den Büchern aufhalten soll“, um dann damit zu schließen, dass das der erste Schritt sei, um mit dem eigenen Schreiben zu beginnen. Kreativität ist komplex und nicht allein dadurch zu erreichen, dass man mit der Rezeption aufhört. Außerdem brauchen wir keine Menschen die Bücher schreiben, weil wir keine mehr haben, die sie lesen.
Auch bei mir ist es nicht so, dass ich leidenschaftlich gern lese und darüber spreche. Ich halte das Lesen schlichtweg für die angenehmste Weise, die Zeit totzuschlagen. Diese Erfahrung, Zeit nicht zu nutzen, sie nicht auszunutzen und zu optimieren, sondern sie vorübergehen zu lassen, ist meines Erachtens die einzige Möglichkeit, sich mit der Tatsache der eigenen Vergänglichkeit zu versöhnen. Ich würde der Sinnlosigkeit des Lesens also ein anderes Gewicht geben als Bayard es tut.
Das besprochene Buch habe ich selbstverständlich nicht gelesen. Alle Zitate sind frei erfunden: Produktion statt Rezeption! An seiner statt habe ich mich in jenes Buch vertieft, das bei mir schon lange herumgelegen hat und das ich in einer liebevoll gestalteten Ausgabe besitze, vorzüglich übersetzt, und das ich jedem ans Herz legen möchte, weil es sogar noch besser ist als das persiflierte Original: Don Quijote, von Pierre Menard.
Wenn auch nicht jede Zeile gleich erhellt:
geschehn aus unablässigem Bestreben.
Aléa hat’s hierher gestellt,
und zwar soeben.
Geschrieben: April 25th, 2014 unter lang