06 Juni 2010
Das wahrscheinlich größte und weißeste Weißenfels weltweit
„Die Südharzreise“ von Frank Fischer. Der Autor stammt aus Weißenfels. Aber nicht irgendein Weißenfels – wie irgendein New York oder irgendein Tokio – nein: es handelt sich um das Weißenfels. Das wahrscheinlich größte und weißeste Weißenfels weltweit.
Die Lektüre war nicht einfach für mich. Das lag aber nicht daran, dass das Buch so komplex ist, da lag nicht an verschachtelten Satzgefügen oder verwickelten Lebensschicksalen, sondern daran, dass dort Worte und Orte zu finden sind, die ich nicht kenne, Orte wie Schkortleben und Oeglitzsch. Solche Orte müssen auch einen Namen haben, das verstehe ich, einen Namen, an dem man sie erkennen und identifizieren kann. Auch ein Kyffhäuserdenkmal muss irgendwie heißen und warum dann nicht gleich Kyffhäuserdenkmal. Obwohl ich das schon extrem finde, das Wort Kyffhäuserdenkmal. Vor allem war die Lektüre für mich nicht leicht, weil das Buch tief in die Regionalgeschichte dieser Gegend eingreift – indem es sie beschreibt natürlich -, die mir – man ahnt es wohl – nicht sonderlich vertraut ist.
Frank Fischer will im Prinzip lediglich innerhalb von 24 Stunden die A 38 von Leipzig nach Göttingen fahren, mit ein paar Abstechern ins Umland, und wieder retour. Er fährt alleine, mutterseelenallein. Manche Dinge kann man nur alleine erleben. „Abstrakter Tourismus zwischen Leipzig und Göttingen“, lautet der Untertitel des Buches und das bedeutet bei knapp tausend Kilometern und drei Dutzend besuchter, touristisch relevanter Orte, dass es recht zügig gehen muss: „ … aber ich beende sofort dieses unfreiwillige Zuhören, indem ich weiter zur Unterburg rase, wo ich aus touristischen Gründen einige Sekunden stehen bleibe, und dann wieder zurück zum Ausgangspunkt. “
Diese Autobahn gehört zu den Verkehrsprojekten Deutsche Einheit und ist also recht neu. Die für die Tourismusindustrie relevanten Gegenstände, also Denkmäler, werden klug eingeschränkt und relativiert: „Die Weltgeschichte hat ein paar Dutzend Orte neben dieser neuen Autobahn verteilt und der Tourismusindustrie einige Superlative und Einmaligkeiten geliefert. Manchmal müssen diese aber auch klug erfunden werden, denn es kann nur ein größtes Denkmal der Welt, eine größte Kirche Europas, ein größtes Gebäude der Stadt geben. Also wird zeitlich, typologisch und regional eingeschränkt, was schnell lächerlich wirken kann wie die sprichwörtlich „größte spätgotische Hallenkirche Ostsachsens“. Los geht es in Leipzig, beim Völkerschlachtdenkmal, „dem größten europäischen Denkmal der Welt“.
Der Text ist dabei ausgesprochen witzig und sein Autor sehr belesen. Nietzsche ist ein wichtiger Referent für Fischer und wird mehrfach erwähnt, auch der Entdecker Pigafetta, und einer meiner Lieblingsschriftsteller, der Argentinier Julio Cortázar mit „Die Autonauten auf der Kosmobahn“; Novalis wird genannt, der einige, für die weitere Identitätsforschung zentrale Formulierungen niedergeschrieben hat („In dem Satze a ist a liegt nichts als ein Setzten, Unterscheiden und verbinden. Es ist ein philosophischer Parallelismus. Um a deutlicher zu machen wird A getheilt. Ist wird als allgemeiner Gehalt, a als bestimmte Form aufgestellt. Das Wesen der Identität läßt sich nur in einen Scheinsatz aufstellen. Wir verlassen das Identische, um es darzustellen …“; die ersten Sätze aus den „Fichte Studien“); auch Tieck und Tarantino, auch Luther hat einen kleinen Gastauftritt und Einar Schleef mit seinem Roman „Gertrud“.
Mit Schleef sind wir in einem Ort namens Sangerhausen und im Café Kolditz. Vielmehr außen vor, denn das Cafe hat geschlossen und Frank Fischer und der abstrakte Tourismus müssen sich damit begnügen, durchs Fenster zu schauen. Ich habe den Namen dieses Cafés nie gehört. Es ist aber offenbar berühmt. Ein „Sehnsuchtsort der Popliteratur“. Ich kenne die Popliteratur nicht, da war ich noch nicht in Deutschland und ich war vielleicht auch noch zu jung, um mich dafür zu interessieren. Ich habe einmal ein Buch von Kristian Kracht gelesen, „Faserland“. Ich dachte die ganze Zeit, dass da etwas kommt, ich erwartete, dass da noch etwas passiert. Aber da kam nichts und da passierte auch nichts. Wenn das die Definition von Popliteratur ist, dann ist das nicht meine Literatur. Dennoch freut es mich, dass die Literatur immerhin in der Lage ist, aus einem normalen Café einen Ort der Sehnsucht zu machen.
Morgens um fünf in Halle-Neustadt, einer Satellitensiedlung des DDR Wohnungsbauprogramms, alles Plattenbauten, heißt es ladipar: „Um diese Uhrzeit wirkt jede Stadt unbewohnt, aber in Halle-Neustadt ist die Diskrepanz zwischen sichtbarem Wohnraum und unsichtbarer Bevölkerung besonders groß.“ Wir bekommen außerdem eine vollständige Interpretation des besten schlechtesten Gedichtes aller Zeiten, oder beinahe jedenfalls. Seltsamerweise wird Pynchons „Die Enden der Parabel“ als Jugendbuch bezeichnet. Hier die, wie ich finde, schönste Formulierung: „Links und rechts frühherbstliche Felder, darüber ein paar Wolkenzitate aus verwitterten Schlachtengemälden.“
Der abstrakte Tourismus, wie ihn Frank Fischer präsentiert, ist, anders als erwartet, ausgesprochen dicht an Erlebnissen. Möglicherweise liegt das vor allem an dem Autor und seinem Bericht und nicht so sehr an der Art des Tourismus.
Vielleicht wär es klug von mir gewesen, vorher die Harzreise von Heinrich Heine zu lesen. Habe ich nicht getan. Wer klüger sein will als ich es war, der kann Heine hier nachlesen.
Im letzten Drittel des Buchs finden sich Fotos jener Orte, die in den beiden vorhergehenden Dritteln beschrieben wurden. Ich hätte mir Fotos von der Autobahn gewünscht. Autobahn, das ist ein sehr deutsches Wort. Und weltweit bekannt. In Rumänien wird die „Deutsche Autobahn“ für das achte Weltwunder gehalten. So eine deutsche Autobahn hat mindestens 30 Spuren in jede Richtung – wohlgemerkt in jede Richtung und nicht nur, wie alle anderen Autobahnen, in zwei Richtungen – Mit einer solchen Autobahn kann man sich die Natur endgültig Untertan machen und die Nachfolge Gottes, sollten da noch Zweifel herrschen, ist geklärt.
Nach der Lektüre hat mich das merkwürdige Gefühl beschlichen – ich kann das nicht belegen, das ist etwas, was sich mit den Jahren der Lektüre einstellt – dass, während Frank Fischer den Wagen gesteuert hat, jemand auf dem Beifahrersitz saß, ein hübsches blondes oder doch eher brünettes lyrisches Ich, das dem Herrn Fischer all sein Wissen eingeflüstert hat, welches er uns mit lockerer Hand präsentiert. Woher, frage ich mich, sollte ein Mann das sonst alles wissen?
Frank Fischer ist übrigens der Betreiber von Der Umblätterer, und hat außerdem eine Webseite.
Frank Fischer, Die Südharzreise
Abstrakter Tourismus zwischen Leipzig und Göttingen
Nachwort von David Woodard
Bilder von Andreas Vogel
96 Seiten, Broschur, EUR 10,00
ISBN 978-3-941592-12-4
Geschrieben: Juni 6th, 2010 unter Lessons & Lectures, voluminös
Pingback von Tweets that mention Aleatorik » Das wahrscheinlich größte und weißeste Weißenfels weltweit — Topsy.com
Datum/Uhrzeit 6. Juni 2010 um 11:23
[...] This post was mentioned on Twitter by litblogslitblogs.net and Frank Fischer, Frank Fischer. Frank Fischer said: RT @litblogs_net: Aleatorik » Das wahrscheinlich größte und weißeste Weißenfels weltweit http://bit.ly/doOBeb [...]